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 Ein Viertel kippt!
 Gegen die Verfestigung der offenen Koffeinszene
 Verlagerung des Gewerbehofs jetzt!
 
 In den vergangenen Jahren wurde der Roten Flora immer wieder vorgeworfen, 
              dass sie die Probleme im Schanzenviertel herunterspielt und jegliche 
              Lösungsvorschläge mit fragwürdigen ideologischen 
              Begründungen ablehnt  kurz: wir wären ja immer gegen 
              alles und würden keine konstruktiven Beiträge für 
              die Lösung von Problemen im Stadtteil leisten. Heute wollen 
              wir zeigen, dass das nicht stimmt und wir uns stattdessen ganz konstruktiv 
              an der Diskussion um die Zukunft des Schanzenviertels beteiligen.
 Wir alle kennen die Situation, die seit einigen Jahren immer mehr 
              zum Alltag geworden ist: Schicke Sportwagen parken schräg über 
              unsere Gehwege, so dass Kinderwagen nicht mehr durchkommen. Menschen 
              in Designer-Street-Wear mit Kunstleder-Sporttaschen oder Hornbrillen 
              verstopfen die Straßen, drücken sich in Hauseingängen 
              ihren Milchkaffee rein, lassen benutzte Kaffeetassen dort stehen 
               direkt zugänglich für unsere Kinder. Jeden Abend 
              wird bis tief in die Nacht vor unseren Häusern und in Bars 
              ohne Scheiben laut gefeiert und die Polizei tut nichts. Überall 
              klingeln ständig Handys, Yuppies lassen benutzte Handys im 
              Sandkasten liegen  mit noch ungeklärten gesundheitlichen 
              Folgen für unsere Kinder. Kurz: Die offene Yuppie- und Koffein-Szene 
              bedroht das subjektive Sicherheitsempfinden von uns allen  
              wenn nicht sofort gehandelt wird, kippt unser schönes multikulturelles 
              Viertel!
 Doch diese Szene war ja nicht schon immer hier. Die Yuppie- und 
              Koffein-Szene bewegt sich gerne im Umfeld von Betrieben der neuen 
              Medien-Branche. Da, wo sich die dort arbeitenden Menschen treffen, 
              um gemeinsam sich selbst zu verwirklichen, da halten sie sich auch 
              außerhalb dieser Tätigkeit auf. Der Gewerbehof im Schulterblatt, 
              wo unzählige dieser Betriebe angesiedelt sind, ist also direkter 
              Anzugspunkt für die Szene. Durch den Gewerbehof sind immer 
              größere Teile der Szene in unser Viertel geströmt.Wir fragen: Wie kann sich eine solche Einrichtung in einem Viertel 
              befinden, in dem viele Familien mit kleinen Kindern leben  
              bei all den verheerenden Folgen? Unsere Antwort ist: Gar nicht! 
              Ein Gewerbehof gehört in ein Gewerbegebiet und nicht in ein 
              Wohnviertel, wo Kinder in direkten Kontakt mit der dort arbeitenden 
              Szene kommen.Deshalb haben wir heute konstruktiv die »Arbeitsgruppe 
              zur Verlagerung des Gewerbehofs« gegründet und begonnen, 
              Kriterien für einen neuen Standort des Gewerbehofs festzulegen: 
              z.B. höchstens 100 m Entfernung zum nächsten bewachten 
              Parkplatz und mindestens 500 m Entfernung zum nächsten Spielplatz 
              oder zur nächsten Schule. Gleichzeitig haben wir konstruktive 
              Überlegungen angestellt, welche Einrichtungen sinnvollerweise 
              in das Gebäude einziehen können, wenn die Betriebe der 
              neuen Medien-Branche verlagert worden sind. Nach ausgiebiger Prüfung 
              der Bedürfnisse im Stadtteil haben wir festgestellt, dass ein 
              nicht unerheblicher Teil der Yuppie- und Koffein-Szene mittlerweile 
              schon im Schanzenviertel wohnt und sich deshalb auch durch die Verlagerung 
              des Gewerbehofs nicht sofort umsiedeln wird. Um diesen Teil der 
              Szene von der Straße zu holen, haben wir beschlossen, im Gebäude 
              des Gewerbehofs einen Sozialraum einzurichten. Wir haben deshalb 
              heute dort ein Schild angebracht, mit der Aufschrift:
 
 Nun hoffen wir auf ihre konstruktive Mitarbeit. Unsere Arbeitsgruppe 
              ist offen für alle, die konstruktive Vorschläge für 
              die Verlagerung des Gewerbehofs oder für die Ausgestaltung 
              des neuen Sozial-Raums beitragen wollen.
 Das nächste Treffen wird rechtzeitig öffentlich bekannt 
              gemacht.Welchen Sündenbock hätten sie gerne?
 Vielleicht sind Sie noch nicht so ganz überzeugt vom Ansatz 
              unserer Arbeitsgruppe.
 Vielleicht sehen Sie die Probleme im Viertel woanders, denn Sie 
              stört der Anblick der »Junkies« und der »offenen 
              Drogen-Szene« viel mehr als der der Yuppies und der »offenen 
              Koffein-Szene«. Vielleicht glauben Sie den Geschichten von 
              den Spritzen im Sandkasten eher als denen von den gesundheitsgefährdenden 
              Handys. Vielleicht finden Sie auch, dass die Yuppies doch nicht 
              alle auf dem Gehweg parken - es gibt eben solche und solche  
              wohingegen die »Junkies« allesamt aggressiv betteln 
              und ihre Spritzen überall liegen lassen.
 Alles das würde zeigen, dass Sie ihren Sündenbock gefunden 
              haben  so wie wir unseren. So ein Sündenbock ist ´ne 
              prima Sache, denn alles was einen so nervt, kann dem untergeschoben 
              werden. Und damit man sich wieder gut fühlen kann, kann man 
              dann fordern, dass der Sündenbock weg muss: »Das Boot 
              ist voll!« oder »Das Viertel kippt!« oder »Eine 
              Drogenhilfeeinrichtung passt eben nicht in eine Einkaufsstraße«. 
              Ob abgeschoben als Schwarzafrikaner oder in nächste Viertel 
              vertrieben als Drogen-KonsumentIn  hinterher haben sich die 
              Probleme zwar auch nicht gelöst, aber solange man einen Sündenbock 
              hat, weiß man zumindest, dass man selbst unschuldig ist.Wichtig ist aber auch, dass man nicht nur einen Sündenbock 
              hat, sondern auch einen Ort, der ein sogenannter »Anziehungspunkt« 
              für den Sündenbock sein soll, und von dem man dann fordern 
              kann, dass er woanders hin soll:
 
 Seit über einem Jahr fordert die Gewerbetreibenden-Lobby »Standpunkt.Schanze«, 
              dass der Fixstern aus dem Schulterblatt verschwinden soll, da »das 
              Schulterblatt eine Einkaufsstraße ist, und da passt eine Drogenhilfeeinrichtung 
              einfach nicht rein.«
 An dieser Argumentation haben wir uns orientiert und wir finden, 
              unser »Anziehungspunkt« kann mit dem von »Standpunkt.Schanze« 
              durchaus mithalten.
 Wenn dann solch ein »Anziehungspunkt« gefunden ist, 
              kann eine »AG« gegründet werden oder ein »Runder 
              Tisch« wird einberufen  denn das zuvor in die Welt gebrachte 
              Problem muss ja jetzt gelöst werden. Und in dem Moment kommt 
              die STEG ins Spiel: Die STEG ist von der Stadt nicht zuletzt gegründet 
              worden, um die Aufwertungs- und Umstrukturierungspläne der 
              Stadt den AnwohnerInnen so gut wie möglich zu verkaufen - damit 
              nicht wieder wie vor zehn Jahren ein halber Stadtteil dagegen Widerstand 
              leistet und leerstehende Theater-Ruinen besetzt. Dazu muss der Eindruck 
              erweckt werden, dass »alle zusammen an einem Tisch sitzen« 
              und alle mitreden dürfen. Und weil »AG´s« 
              und »Runde Tische«, die die Drogenszene zum Problem 
              erklären, so prima mit den Aufwertungsinteressen der Stadt 
              zusammenpassen, werden solche »AG´s« und »Runde 
              Tische« von der STEG gefördert oder initiiert. Die STEG 
              sagt das natürlich nicht, weil sie doch eigentlich ganz neutral 
              ist, nur die Moderation macht und doch nur will, dass sich die Leute 
              im Stadtteil einbringen können. Da wir das ja auch wollen, 
              sind wir mit unserer AG auch gleich zur STEG gegangen. Und weil 
              die Leute der STEG das alles glauben, und nicht glauben, dass die 
              »Runden Tische« eh nichts zu sagen haben und sie nur 
              ruhig stellen sollen, funktioniert das auch, und alle finden, dass 
              sie sich mal so richtig engagiert und eingemischt haben  Zivilcourage 
              ist ja schließlich voll im Trend. Nur die Rote Flora musste 
              natürlich immer wieder die Spielverderberin machen, wenn sie 
              in ihren Pamphleten diese Form der Zivilcourage öffentlich 
              denunziert und bis jetzt nie bei solchen Inszenierungen mitgespielt 
              hat.
 Wenn Sie jetzt verstanden haben, wie das Spiel gespielt wird, dann 
              werden Sie sicher erkennen, dass wir bei unserer AG-Gründung 
              die wichtigste Regel missachtet haben: Gute Sündenböcke 
              sind vor allem diejenigen, die erstens eh nicht viel zu sagen haben 
              und sich deshalb auch nicht gegen ihr Dasein als Sündenbock 
              wehren können und zweitens in die Pläne der Stadt für 
              das Viertel nicht hineinpassen. Und da bieten sich die Werbe-Yuppies, 
              die für die Stadt den Medien-Standort sichern sollen, eben 
              gar nicht an. Die »Junkies« und »schwarzen Dealer« 
              sind dagegen wunderbare Kandidaten: Die einen haben meist kein Dach 
              über dem Kopf, die anderen oft keinen Ausweis. Und beide stören 
              das Bild vom aufstrebenden, attraktiven Schanzenviertel - wie im 
              Übrigen auch eine Rote Flora, die als politisches Zentrum in 
              den vergangenen Jahren immer wieder nicht nur gegen die herrschende 
              Drogenpolitik Partei ergriffen hat. 
 Hier wird jetzt klar, dass nur unsere AG ein Spiel ist. Dagegen 
              sind die Auswirkungen der Initiativen, die gegen die Drogenszene 
              hetzen, ganz real: die tagtägliche Vertreibung der meist obdachlosen 
              Drogen-UserInnen von einer Straße in die nächste und 
              die täglichen rassistischen Polizeikontrollen gegen Menschen 
              schwarzer Hautfarbe und deren mögliche Abschiebung sind kein 
              Spiel, sondern eine Praxis die nicht selten zum Tod führt. 
              Das Elend von so vielen DrogenkonsumentInnen ist in erster Linie 
              Resultat der staatlichen und städtischen Drogen-Verbots-Politik. 
              Solange nicht das Elend dieser Menschen als Problem betrachtet wird, 
              sondern ihre Anwesenheit und sie noch weiter ausgegrenzt, an den 
              Rand gedrängt und vertrieben werden, solange werden wir uns 
              weiter einmischen.
 Die Diskussion über die »offene Drogenszene« ist 
              dabei nur ein besonders eklatantes Beispiel für die Entwicklung 
              im Schanzenviertel. Im »Zukunftsviertel Schanze«, wie 
              es die STEG mittlerweile nennt, heißt es immer häufiger 
              »No Future« für diejenigen, die nicht den schicken 
              Regeln der allgemeinen Aufwertungseuphorie entsprechen und damit 
              schlechte Laune machen. Dass sich die Flora in ein solches Zukunftsviertel 
              immer noch nicht eingemeinden lassen will, keine Verträge unterschreibt 
              und sich nicht auf ein »alternatives« Kulturangebot 
              zurechtstutzt, macht offenbar schlechte Laune - bei der CDU, die 
              gleich draufhauen will, bei der SPD, die befrieden will, bei der 
              STEG, die ja mal gerne drüber reden würde - und das ist 
              schließlich die beste Rolle, die man im harmonischen Zusammenspiel 
              von Aufwertung und Vertreibung einnehmen kann.
 
 
     
 
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