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Wenn Realität zum Alptraum wird

Wenn Realität wie ein Alptraum funktioniert wirds Zeit aufzuwachen. Bis gestern Abend hatte ich das Gefühl, daß es noch sowas wie einen Rechtsstaat gibt . Ich wußte zwar, daß Unterdrückung und gewalt auch hier existiert und von jedem "Rechts"staat abgesichert wird, aber ich fühlte mich wenig unmittelbar bedroht. Das ist heute anders.

Wenn Realität wie ein Alptraum funktioniert wirds Zeit aufzuwachen. Bis gestern Abend hatte ich das Gefühl, daß es noch sowas wie einen Rechtsstaat gibt . Ich wußte zwar, daß Unterdrückung und gewalt auch hier existiert und von jedem "Rechts"staat abgesichert wird, aber ich fühlte mich wenig unmittelbar bedroht. Das ist heute anders.

Kreuzberg, Oranien-/Ecke Adalbertstraße, 0 Uhr 30 (Dienstag früh, 16.12.) In den Nachrichten wurde gesagt, die "plündernden" Hausbesetzer und ihre "Symphatisanten" würden nach Kreuzberg abziehen. Nichts da, wer nach Kreuzberg zog, das war die geballte "Ordnungsmacht" . Mit ca. 50 Wannen wurde SO 36 richtiggehend besetzt. Gruppen von Nahkämpfern im grünen Kampfanzug durchstreiften die Gegend - nach Opfern ihrer Prügelorgien suchend. Vom Kudamm waren zu dieser Zeit ungefähr 200 Menschen in Kreuzberg rund um das Kottbusser Tor eingetroffen und standen verstreut an den Straßenecken und schauten ungläubig auf diese Bürgerkriegsszenerie: Mit Blaulicht rasten die Wannen im Karree - ab und zu sprang eine Gruppe vom Wagen. An den Straßenecken der Oranien-/Adalbertsraße hatten sich ca. 100 Menschen versammelt. Plötzlich sprangen mindestens ebensoviele der Nahkämpfer von ihren Wagen, ein Befehl erscholl "nach da drüben", und schon stürmten sie los. Ca. 20 Leute erlitten Platzwunden am Kopf, Abschürfungen, Knochenbrüche. Es bestand keine Chance noch rechtzeitig wegzukommen. An Gegenwehr hatte soundso keiner mehr gedacht. Mir verpaßte einer eine zwei cm tiefe Platzwunde am Kopf, vor dem nächsten Schlag rettete mich einer der Hausbesetzer in das besetzte Haus in der Adalbertstraße. Dort verbanden sie mich provisorisch und nachdem die Grünen abgezogen waren, gings ins Urban-Krankenhaus. Dort waren inzwischen die meisten Verletzten angekommen - Lazarett-Atmosphäre. Meinen Freund, mit dem ich in der Oranienstraße war, traf ich dort auch wieder - mit Abschürfungen im Gesicht, Schlagstockhieben und Beulen am Kopf. Ihn hatten sie von hinten erwischt, so daß er ohne sein gesicht schützne zu können voll auf der Straße landete. Als er wieder zu sich kam, stand ein "Ordnungshüter" neben ihm und meinte lakonisch: "Hier is ne Straßenecke, keen Bett!"

Der Notarzt im Krankenhaus stellte mein Vertrauen wieder her, daß es noch Menschen gibt. Völlig überlastet, fluchend auf die Bullen, die in den letzten drei Tagen unzählige Verletzte ins Krankenhaus geprügelt hatten, behandelte er die Leute sorgfältig. Nach 2 1/2 Stunden Krankenhaus, dröhnendem und genähtem Schädel wollte ich nur noch ins Bett. Doch jetzt begann erst die Alptraum-Wirklichkeit. Nachdem mein Freund und ich meinen Helfer aus dem besetztem Haus in die Adalbertstraße zurückgebracht hatten, verfolgte uns eine Streife der Verkehrspolizei bis vor unsere Wohnung. Wir hatten das bemerkt, dachten aber, sie wollten "nur" unsere Adresse für den Computer und fuhren nach Hause. Kaum angehalten, stiegen zwei Grüne aus, fingen an am Auto rumzufummeln, fragten nach Papieren, wurden aggressiv. Noch immer hatten wir nichtganz gescheckt, worum es ging, wollten möglichst schnell in unsere Wohnung und warteten relativ ruhig. Inzwischen waren noch zwei Bullis eingetroffen und dann ging der Tanz los. Einer von ihnen machte mich schräg an und schon hatte ich seine Faust im Gesicht und in der Seite. Mein Freund bekam ebenso unvermittelt einen Knüppel auf Kopf und Körper. Dann verfrachteten sie uns einzeln in ihre Wagen - ohne Begründung, dafür aber unter Drohungen. Der eine zog sich Handschuhe an und los gings. Sie sagten weder, warum sie uns mitnahmen noch wohin. Ich befürchtete, es ginge in die nächste dunkle Straße, wo sie uns dann endgültig fertig machen würden. "Zum Gluck" gings dann doch aufs Revier in die Puttkammerstraße. Dort angekommen, wurden wir durchsucht, in Haftzellen gesperrt. Einer von den dortigen - Typ Sadist - wichste mich nochmal an und schlug wieder zu. Der Rest der anwesenden Bullen war aggressiv aufgeregt, kein Mensch, dem man was sagen konnte, keine Möglichkeit zu telefonieren. Nachdem sie uns `ne Stunde festgehalten hatten und auch sonst nix fanden, was sie uns anhängen konnten, ließen sie uns wieder raus. Unsere Personalausweise hatten sie eingezogen, da sie "unbrauchbar" wären (sie hatten sie zerrissen), ein Mängelbericht für das Auto wurde ausgestellt und eine Anzeige wegen Verkehrsordnungswidrigkeit. Ein paar Sprüche noch und raus waren wir. Daß uns nicht mehr passierte, lag wohl daran, daß wir gerade aus dem Krankenhaus kamen, wo unser Zustand festgehalten worden war. Wir hätten jede weitere Verletzung ihnen damit nachweisen können. Der aufgeschlagene Mund reichte ihnen. Mir auch. Es war inzwischen 4 Uhr 30. Rache, pure Gewalttätigkeit in Uniform, ausgestattet mit allen Mitteln, geschützt und aufgehetzt vom Rundfunk und Zeitungen herrscht zur Zeit in Kreuzberg. Die Möglichkeit, von der Straße weg von uniformierten Schlägern eingesackt zu werden ist Kreuzberg Realität. Es ist gefährlich geworden, sich allein in Kreuzberg zu bewegen. Ein realer Alptraum.      Gerhard

TAZ 17.12.

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