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Blutige Straßenschlachten in Berlin
Unruhen bei der Räumung eines besetzten Hauses im Bezirk Kreuzberg

Berlin (dpa)
Bei den gewalttätigsten Auseinandersetzungen seit Jahren sind in den Nächten zum Samstag und Sonntag in Berlin mehr als 70 Polizisten und eine unbekannte Zahl von Demonstranten verletzt worden. Rund 60 an Tumulten und Plünderungen Beteiligtewurden festgenommen, gegen 22 wurden Haftbefehle erlassen. Hintergrund der Ausschreitungen waren Auseinandersetzungen zwischen Hausbesetzern und Polizei im Bezirk Kreuzberg . Berlins Innensenator Peter Ulrich (SPD) hatte vor Aktionen gewarnt und erklärt, Gewaltakte gegen Menschen und die Allgemeinheit überhaupt würden nicht länger hingnommen. Gleichzeitig bekräftigte er die Entschlossenheit des Senats, die Hausbesetzungen und ihre Ursachen auf politischem Weg zu lösen.

Die Tumulte hatten am Freitagnachmittag begonnen, nachdem die Polizei ein besetztes Haus in Kreuzberg mit massivem Einsatz geräumt und die Besetzung eines weiteren verhindert hatte. Nach Augenzeugenberichten gerieten auch unbeteiligte Passanten in die Schlagrichtung der Polizei, darunter sogar Kinder. In den darauffolgenden Stunden wuchs die zunächst kleinere Gruppe der Demonstranten bis zu 500 Teilnehmern an, die der Polizei in mehreren Straßenzügen Kreuzbergs erbitterte Straßenschlachten lieferten, die sich bis in die Morgenstunden des Samstags hineinzogen.

In der Nacht zum Sonntag hatten sich rund tausend Demonstranten auf dem Kurfürstendamm in der Berliner City versammelt. Sie forderten in Sprechchören die Freilassung der am Vorabend Festgenommenen. Während die Menge zunächst relativ friedlich den Kurfürstendamm auf- und abzog, flogen in den frühen Morgenstunden erneut Steine gegen Polizisten, Schaufensterscheiben gingen zu Bruch. Vereinzelt wurden auch wieder Läden geplündert. Auch in anderen Stadtteilen - so in Britz, Buckow, Spandau und Wilmersdorf - warfen in der Nacht zum Sonntag Unbekannte Fensterscheiben von Banken und Läden ein.

Polizeipräsident Klaus Hübner, der sich zeitweilig in die Einsatzleitung einschaltete, wies Vorwürfe von Demonstranten zurück, die Beamten seien brutal und rücksichtslos auch gegen Unbeteiligte vorgegangen. Er wies darauf hin, die Polizei habe "rechtmäßig eine unrechtmäßige Handlung beendet". Augenzeugen hatten unter anderem berichtet, am Kreuzberger Oranienplatz sei ein Polizeifahrzeug absichtlich in eine Demonstrantengruppe gefahren und habe mehrere Menschen verletzt.

Innensenator Ulrich bescheinigte der Polizei, sie sei in einer schwierigen Lage"angemessen, energisch und vernünftig" vorgegangen. Er betonte, der Senat werde sich von seiner "Linie der Vernunft" auch durch Gewaltakte nicht abbringen lassen. Sprecher der CDU-Opposition im Berliner Parlament und der Gewerkschaft der Polizei kritisierten dagegen die Untätigkeit des Senats. Oppositionsführer Eberhard Diepgen erklärte, die Lage in Kreuzberg sei Ausdruck einer verfehlten Wohnungspolitik. Ein Sprecher der Polizeigewerkschaft beklagte, in Kreuzberg sei eine Art Pseudorecht entstanden,wodurch sich militante Besetzergruppen ermuntert fühlten.

Das Problem von Hausbesetzungen im Arbeiterbezirk Kreuzberg mit seiner Vielzahl verkommener Mietskasernen schwelt bereits seit langem. Zur Zeit sind dort rund 20 Häuser meist von Anhängern der "alternativen Szene" besetzt, die mit ihren Aktionen den Abriß der Häuser oder Mietsteigerungen infolge teurer Sanierungsmaßnahmen verhindern wollen. Die Hausbesetzer, die heruntergekommene Wohnungen meist sofort renovieren ("Instandbesetzen") fanden in der Bevölkerung und auch bei Politikern von SPD und FDP Sympathie. In den vergangenen Wochen wurde ein Spaltungsprozeß unter den Besetzern in zwei Lager beobachtet: Befürworter friedlicher Aktionen und von Verhandlungen mit Behörden und Wohnungsbaugesellschaften und eine Gruppierung politisch-radikaler Kräfte, die die Wohnungsprobleme zum Anlaß gewalttätiger Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht nutzen wollen.

SZ 15.12.80

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