junge Welt vom 03.01.2006
 
Interview

»Das Leben so unattraktiv wie möglich machen«

Als einziger Berliner Bezirk verweigert Spandau Flüchtlingen die Auszahlung von Bargeld. Antirassisten kritisieren Chipkartensystem.Ein Gespräch mit Stefanie Behrens

Interview: Markus Bernhardt
 
* Stefanie Behrens ist Sprecherin der Berliner Initiative gegen das Chipkartensystem

F: Im Berliner Bezirk Spandau wird Flüchtlingen noch immer die Auszahlung von Bargeld verweigert. Die Migranten erhalten dort sogenannte Chipkarten, mit denen sie Lebensmittel, Medizin und andere lebensnotwendige Dinge erwerben sollen. Welche Probleme treten dabei zutage?

In ganz Berlin gibt es mittlerweile nur noch 19 Läden und zwei Apotheken, in denen mit Chipkarten bezahlt werden kann. Das bedeutet für die Betroffenen, für jeden noch so kleinen Einkauf weite Wege mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen zu müssen, obwohl die Flüchtlinge keine Sozialkarte bekommen und die Fahrkarten vom »Taschengeld« bezahlen müssen. In Spandau selbst gibt es beispielsweise nur noch einen Laden, der die Karten annimmt. Da alle beteiligten Läden eher teuer sind, wird das geringe Budget der Betroffenen noch zusätzlich verringert. Grundsätzlich ist das Problem mit den Karten neben der Einschränkung der Einkaufsmöglichkeiten aber auch die öffentliche Stigmatisierung, die oft zu rassistischen Kommentaren durch Verkäufer oder andere Kunden führt. Da die Lesegeräte sehr anfällig und oft kaputt sind, entstehen schnell Schlangen an der Kasse, was zu Ungeduld und unfreundlichen Bemerkungen führt, so daß das Einkaufen für die Betroffenen zum Spießrutenlauf werden kann.

F: Diverse Dinge können mit der Chipkarte nicht finanziert werden. Wie bezahlen die Flüchtlinge beispielsweise Telefonate, Fahrkarten oder auch Anwaltskosten?

Alle anderen Ausgaben, die das Leben mit sich bringt, müssen die Betroffenen von ihrem sogenannten »Taschengeld« bezahlen, das sind im Regelfall für einen Erwachsenen 40 Euro im Monat. Dieser Betrag kann aber noch willkürlich gekürzt werden, wenn der zuständige Sachbearbeiter meint, der jeweilige Betroffene sei nur der Sozialleistungen wegen in die Bundesrepublik gekommen. In diesem Fall bekommen die Menschen nur noch zehn Euro im Monat. Manche bekommen auch gar nichts und werden damit zwangsläufig zum Fahren ohne Fahrschein getrieben. Anwaltskosten können so natürlich auch nicht bezahlt werden, und ohne rechtlichen Beistand sinkt die Aussicht auf einen gerichtlichen Erfolg während des Asylverfahrens gegen Null. Aber auch Geburtstagsgeschenke für Kinder oder Kontakt zu Freunden sind nahezu unmöglich.

F: Wie viele Personen sind zur Zeit in Berlin noch von diesem Chipkartensystem betroffen?

Spandau ist der letzte Bezirk, der dieses System noch Menschen zumutet. Insgesamt werden circa 73 Karten an Einzelpersonen und Familien ausgegeben. Selbst der Bezirk Reinickendorf, der für seine soziale Härte bekannt ist, hat gerade beschlossen, ab Februar 2006 keine Karten mehr auszugeben und den Flüchtlingen Bargeld auszuzahlen.

F: Warum weigert sich das Bezirksamt Spandau, den Migranten Bargeld auszuzahlen?

Die CDU/FDP-Mehrheit begründet ihr Festhalten an dem System damit, daß sonst das Geld »versoffen« würde oder daß Schlepper die Betroffenen erpressen könnten. Die Verantwortlichen geben offen zu, daß sie Flüchtlingen das Leben hier so unattraktiv wie möglich machen wollen. Wie unsinnig die Argumente sind, zeigt sich schon allein daran, daß alle anderen Bezirke das System abgeschafft haben. Die eigentliche Konstante in der Politik der Spandauer CDU ist die soziale Ausgrenzung.

F: Was kann man tun, um die Flüchtlinge konkret zu unterstützen?

Die »Initiative gegen das Chipkartensystem« vermittelt Kontakte, damit Leute gemeinsam mit den Betroffenen einkaufen gehen können. Der beste Weg wäre, wenn sich Menschen finden würden, die bereit wären, den Flüchtlingen den Wert ihrer Chipkarte in bar auszuzahlen und selbst mit dieser Karte einkaufen zu gehen. Somit könnten die Betroffenen frei wählen, wofür sie ihr Geld ausgeben und wo sie einkaufen. Zudem könnte es auf diesem Wege gelingen, dieses ganze System ad absurdum zu führen.

* info: www.chipkartenini.squat.net

 

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Ausdruck erstellt am 05.01.2006 um 19:15:11 Uhr

 
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