Artikelarchiv 1971

Die Texte stammen von der Site http://www.riolyrics.de/artik71.html.


B.Z. am 16.02.1971
Autor: Peter Winkler

Aggressiv, kritisch und unverschleiert: die Berliner "Ton-Steine-Scherben"

Eine Band macht ´Geschichten´

Ihr Domizil haben sie in Berlin-Kreuzberg. Eine Gegend, in der die Leute von der "Ton-Steine-Scherben-Band aus dem Vollen schöpfen, "denn hier ist die Umwelt, mit der wir uns beschäftigen und uns in unseren Songs kritisch auseinandersetzen". Songs, die im Teamwork von Ralph Möbius, Ralph Steitz, Kai Sichter und Wolfgang Seidel gefertigt, speziell für Lehrlinge und Jungarbeiter gedacht sind und deren Probleme ansprechen.

Die Gruppe sagt: "Unsere Musik ist aggressiv, weil junge Menschen, mit denen wir in Kontakt kommen möchten, erst einmal emotional bewegt werden müssen, ehe sie aufmerken. Andernfalls würden sie uns ja nicht einmal zuhören."

Konsequenterweise sind ihre Texte - und das ist in bundesrepublikanischen Gefilden immer noch die Ausnahme - in deutscher Sprache gehalten. "Oft sind es Gespräche gewesen, die auf der Straße, in Kneipen oder am Arbeitsplatz real geführt wurden. Wir brauchten sie dann nur aufzuschreiben und sie etwas passend zu machen."

Daß sie damit richtig liegen, bestätigen ihnen Gastspiele auf den von Stadtverwaltungen und Gewerkschaften in den Städten propagierten Lehrlingswochen. "Meist kommt es nach unseren Auftritten spontan zu Diskussionen. Es werden Themen mit einer Gründlichkeit erörtert, die selbst uns - ganz bestimmt aber die Veranstalter - überraschen. Das kann man natürlich nur erreichen, wenn man in den Songs die Probleme der jungen Menschen direkt anspricht. Und nicht, wie es so oft geschieht, verschleiert."

Die Direktheit der "Ton-Steine-Scherben"-Mannschaft brachte ihr Popularität und zumindest lokalen Ruhm in Masse ein. "Ein gefährlicher Punkt, den wir da erreicht haben", bemerken sie selbst. Sie erkannten ihn, als sich Manager der Schallplatten-Branche in Kreuzberg zu Kontaktgesprächen anmeldeten.

Platten in Eigenproduktion

"Wir beschlossen, nach einigen zugegebenermaßen nicht ganz leichten Diskussionen, nicht mit den Leuten des Show-Geschäfts zusammenzuarbeiten. Unsere Glaubwürdigkeit wäre dahin. Machen wir uns doch nichts vor, auch wenn uns die ´größtmögliche künstlerische Freiheit´ zugesichert wird, man sagte mit Recht, jetzt sind wir integriert."

Deswegen brauchen "Ton-Steine-Scherben"-Anhänger jedoch nicht auf Platten der rührigen Band zu verzichten. Es gibt sie, in Eigenproduktion fabriziert. Eine LP kommt demnächst auf den "Underground-Markt", "mit Geschichten, die wir selbst erlebt haben". Übrigens, vorab sind diese "Geschichten" am 17., 18. Und 19. im Quartier Latin in der Potsdamer Straße zu hören. Diskussionen selbstverständlich gratis inbegriffen.
Anmerkungen
Dieser interessante Artikel erschien schon im Frühjahr 1971 in der Boulevardzeitung B.Z., als die Scherben nur eine Single ("Macht kaputt, was euch kaputt macht") produziert hatten. Rio Reiser hatte sich sein Synonym noch nicht zugelegt und wurde mit seinem bürgerlichen Namen Ralph Möbius genannt. Ebenso R.P.S. Lanrue. Kai Sichtermann´s Name wurde verkürzt geschrieben. Im Originalartikel erschienen neben zwei Fotos des späteren Managers von NENA und Spliff auch der gesamte Songtext von Ich will nicht werden, was mein Alter ist".
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B.Z. am Montag, dem 5.07.1971
Autor: Wolfgang Schöne

Fabrikgebäude besetzt

Polizei nahm 76 Jugendliche fest

Eine größere Gruppe von Lehrlingen und Schülern besetzte in der Nacht zum Sonntag zwei Etagen eines leerstehenden Fabrikgebäudes in der Mariannenstraße 13 in Kreuzberg. Der Grund der Aktion: Die Jugendlichen wollen in dem ungenutzten Gebäude ein Jugend- und Lehrlingszentrum einrichten. Eine Etage hatten sie zu diesem Zweck bereits in der vergangenen Woche von der Hausverwaltung gemietet.
Um ihre Pläne verwirklichen zu können, benötigen die jungen Leute jedoch die drei anderen leerstehenden Etagen. Aber die Hausverwaltung soll erklärt haben, man wolle das Treiben der Jugendlichen zunächst auf unbestimmte Zeit beobachten, um dann zu entscheiden, ob weitere Etagen freigegeben werden sollen oder nicht.
Das wiederum brachte die Lehrlinge auf die Palme. Denn ihrer Meinung nach ist es nicht einzusehen, warum die anderen Etagen des im Sanierungsplan in einigen Jahren zum Abriß vorgesehenen Hauses ungenutzt bleiben sollen.
Kurz nach der spontanen Besetzung rückte jedoch die Polizei an, um "die Ordnung" wiederherzustellen. 76 Jugendliche wurden vorläufig festgenommen.
Nach einigen Beschwerden über die Behandlung in den Polizeizellen tauchten gestern vormittag der amtierende Kommandeur der Schutzpolizei, Erhard Börner, und Landespolizeidirektor Günter Dittmann in der Fabrik auf. Sie fanden nach längerer Diskussion das Jugendzentrumprojekt "dufte" und versprachen, den Kreuzberger Jugendstadtrat Erwin Beck einzuschalten.
Der Stadtrat suchte die Lehrlingsgruppe noch gestern nacht auf, ließ sich über die Pläne unterrichten und versprach den Jugendlichen seine Unterstützung. Die Lehrlinge wollen eine Werkstatt für Metall- und Holzverarbeitung, ein Fotolabor, Räume für kostenlose medizinische Beratung und für eine Lehrlings-Theatergruppe einrichten.
Anmerkungen
Die angesprochene Hausbesetzung erfolgte nach einem Konzert von "Ton Steine Scherben" in der TU-Mensa Berlin. Die erwähnte "Lehrlings-Theatergruppe" ist die Gruppe "Rote Steine", in der u.a. Mitglieder der Scherben mitwirkten.
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Der Tagesspiegel am Dienstag, dem 6.07.1971
Seite 9
Autor: nicht benannt

Besetzung für eine Ausweitung des Jugendzentrums

Etwa 100 Schüler und Lehrlinge besetzten in der Nacht zum Sonntag zwei Etagen eines zum Teil leerstehenden Fabrikgebäudes in der Kreuzberger Mariannenstraße. Zu dieser Besetzung war es gekommen, nachdem auf einem "Lehrlingstreffen" in der Technischen Universität beschlossen worden war, sich vor dem Fabrikgrundstück zu versammeln. Die erste Etage der Fabrik ist bereits vor einiger Zeit von den Besitzern des Hauses als "Jugendzentrum" vermietet worden. Die Jugendlichen wollen jedoch auch die anderen Etagen mieten, weil sie, wie es in einem Flugblatt heißt, Räume brauchen, "wo wir selbst bestimmten können, was wir in unserer Freizeit machen". Nach Mitteilung der Polizei drangen die Jugendlichen gegen 0 Uhr 30 in das Fabrikgebäude ein und besetzten den dritten und vierten Stock. Nachdem Anwohner die Polizei wegen ruhestörenden Lärms alarmiert hatten, wurden 75 Polizisten in die Mariannenstraße entsandt, um die besetzten Teile des Gebäudes zu räumen. Die Polizei nahm dabei 55 Jugendliche vorübergehend fest, die im Laufe des Sonntagmorgen wieder entlassen wurden. Ein Funkwagen ist nach Angaben der Polizei durch Steinwürfe leicht beschädigt worden. Sonntagnachmittag suchten der Kommandeur der Schutzpolizei, Börner, und der leitende Polizeidirektor Dittmann die Jugendlichen in der von ihnen gemieteten Etage auf. Zwischen ihnen, dem Kreuzberger Jugendstadtrat Erwin Beck und den Anwesenden kam es zu einer Aussprache, die die Absichten der Jugendlichen und Lehrlinge klären sollte.
Anmerkungen
Die angesprochene Hausbesetzung erfolgte nach einem Konzert von "Ton Steine Scherben" in der TU-Mensa Berlin.
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B.Z. am 6.12.1971
Seite 13
Autorenkürzel: A.R.

Berliner Pop-Musiker beendete Diskussion mit Beil-Schlägen

Wut im Bauch

Die Geschichte des deutschen Fernsehens ist um ein bisher nie dagewesenes, einmaliges Ereignis bereichert worden: Die Live-Übertragung einer Diskussion über Pop-Musik "Ende offen" im Dritten Programm des WDR wurde von dem Berliner Musiker Nikel Pallat, Mitglied der Gruppe "Ton, Steine, Scherben" durch Beilhiebe beendet. Pallat, dessen Band durch den vertonten Slogan "Macht kaputt, was euch kaputt macht" ins Gespräch kam, geriet bei einer Auseinandersetzung mit dem Produzenten Rolf Ulrich Kaiser so in Zorn, daß er sein Schlaginstrument aus der Jackentasche zog und auf den Tisch der Diskussionsrunde einhieb. Der Sender übertrug die Zerstörungsversuche noch einige Minuten, bevor die Sendung beendet werden mußte, da der erzürnte Musiker auch einige Mikrofone abmontiert hatte.
Von Nikel Pallats Schlagfertigkeit fasziniert war ein Apotheker aus Remscheid. Er meldete sich wenige Minuten nach Abbruch der Sendung telefonisch bei der Sendeanstalt und bat, keine Regreßansprüche an den Musiker zu stellen, da er persönlich für den Schaden aufkommen wolle.
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B.Z. am 6.12.1971
Seite 4
Autoren: Wolfgang Schöne, H.-J. Nicolai, Peter Finken, Peter Auer
Foto: Rogge/Finken/Schöne

Das war Georg v. Rauch

Georg von Rauch (24), Foto der BZGeorg von Rauch, der am Sonnabend bei einer Schießerei tödlich getroffen wurde, galt in eingeweihten Kreisen als einer der radikalsten Anarchisten in Berlin. Am 12. Mai 1947 in Marburg geboren, kam von Rauch bereits vor einigen Jahren nach Berlin und ließ sich an der FU als Student der Philosophie einschreiben. Schon zur Zeit der gewaltsamen Demonstrationen machte von Rauch mit der Polizei Bekanntschaft. Später schloß er sich Anarchistengruppen an. Er ist vermutlich mitverantwortlich für eine Reihe von Brandstiftungen, Bombenanschlägen und anderen Straftaten.

Gegen ihn liefen Ermittlungsverfahren wegen Landfriedensbruch beim Landratsamt bamberg und in Berlin wegen Widerstandes bei der alliierten Parade im Mai 1970 sowie wegen menschengefährdender Brandstiftung in der Bank für Gemeinwirtschaft im Herbst 1970.

Georg von Rauch war am 6. Februar 1970 nach einem Überfall auf einen Quick-Journalisten zusammen mit zwei Komplicen festgenommen, nach kurzer Haft jedoch wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Weil er seinen gerichtlichen Auflagen nicht nachkam, wurde er im Oktober 1970 erneut verhaftet.

Während des Prozesses gegen ihn wegen versuchten Raubes, Freiheitsberaubung und versuchter Nötigung am 8. Juli dieses Jahres gelang es ihm, durch einen Trick zu entkommen. An Stelle seines auf Gerichtsbeschluß zu entlassenen Mitangeklagten Thomas Weissbecker hatte sich von Rauch aus dem Gerichtssaal entfernt. Als die Verwechslung bemerkt wurde, war er verschwunden.

Nach letzten Erkenntnissen der Polizei ist der 24jährige offensichtlich erst danach zum harten Kern der Baader-Meinhof-Bande gestoßen. Zuletzt war er von einem Beamten der Abteilung 1 vor etwa zwei Wochen im KaDeWe erkannt worden. Er konnte sich jedoch der Festnahme in dem überfüllten Kaufhaus entziehen.
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B.Z. am 9.12.1971
Nr. 286, Seite 4
Autorenkürzel: L.R.

Tumulte in Kreuzberg

Nach einem Teach-in in der Technischen Universität zum Tode des Mitglieds der Baader-Meinhof-Bande, Georg von Rauch, fuhren gestern abend etwa 300 Teilnehmer dieser Veranstaltung zum ehemaligen Bethanien-Krankenhaus in Kreuzberg. In einem Flugblatt war zu einer "Besetzung" aufgerufen worden.

Gegen 21 Uhr 30 wurde die Polizei alarmiert, als die Demonstranten in das Gebäude des Bethanien-Krankenhauses eindrangen. Sie waren vorwiegend in Personenautos in die Gegend um den Mariannenplatz gefahren.

Unter Einsatz von Tränengas und Schlagstöcken zerstreute die Polizei eine Ansammlung von etwa 150 Personen auf dem Mariannenplatz. Zuvor hatten sie alle verfügbaren Einsatzkräfte aus Kreuzberg, Neukölln und Tempelhof sowie Bereitschaftspolizei zusammengezogen.

Während des Polizeieinsatzes wurden wiederholt Funkstreifen und andere Polizeifahrzeuge mit Steinen beworfen. Zerstreute Demonstranten blockierten in den umliegenden Straßen mehrmals den Straßenverkehr.

Bei Redaktionsschluß hielten noch etwa 150 Personen einzelne Gebäude des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses besetzt. Die Polizei zog zu diesem Zeitpunkt Kräfte zusammen, um das Gebäude zu räumen.
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Der Tagesspiegel am Donnerstag, dem 9.12.1971
Seite 10
Autor: nicht benannt

Krawalle am Bethanien-Gelände

Polizei setzte Tränengas ein

Zu heftigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und etwa 300 Jugendlichen kam es gestern in den späten Abendstunden vor dem Gebäude des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses am Mariannenplatz in Kreuzberg. Die Jugendlichen waren nach Angaben der Polizei nach einem "teach in" in der TU zu dem Gebäudekomplex gefahren und hatten versucht, in das Gebäude einzudringen. Alarmierte Polizeifahrzeuge seien mit Steinen beworfen worden. Die Polizei setzte nach eigenen Angaben Tränengas ein, um den Mariannenplatz zu räumen. Die Auseinandersetzungen dauerten bei Redaktionsschluß noch an, obwohl bereits Vertreter des Bezirksamtes mit den Jugendlichen verhandelten.
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Berliner Morgenpost am 10.12. 1971
Seite 4
Ressort: Nachbarschaft
Autor: R. Krönke

Jugendliche Demonstranten in das Rathaus zur Beratung eingeladen

Martha-Maria-Haus des ehemaligen Bethanien seit vorgestern besetzt

Eine Delegation der Jugendlichen Besetzer aus dem Martha-Maria-Haus des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses am Mariannenplatz in Kreuzberg wird heute um zehn Uhr Gelegenheit erhalten, dem Bezirksamt ihre Forderungen vorzutragen. Das war das Ergebnis einer Diskussion, die Kreuzbergs Stadtrat für Jugend und Sport und stellvertretender Bezirksbürgermeister Erwin Beck (SPD) gestern mit den Demonstranten führte. Der Stadtrat gegenüber der Berliner Morgenpost: "Ich halte es für positiv und einer Demokratie angepaßt, daß man sich die Meinung der Gegenseite anhört."

Erwin Beck hatte in einem überfüllten Raum des Martha-Maria-Hauses mit den Demonstranten diskutiert und dabei die Einladung an die Besetzer ausgesprochen, ihre Forderungen heute auf dem Bezirksamt vorzutragen. Das leerstehende Martha-Maria-Haus war am Mittwoch nach einer Veranstaltung in der TU besetzt worden. In einem Flugblatt hatte die "Basisgruppe Kreuzberg Heim- und Lehrlingsarbeit" zur Besetzung des Gebäudes aufgefordert, da "es leerstehe und der Senat sich nicht entscheiden kann." Wie in einem Teil unserer gestrigen Ausgabe bereits berichtet, war es auf dem Mariannenplatz zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den 300 Demonstranten gekommen.

Nach dem Polizeibericht sind Funkwagen, die auf dem Mariannenplatz eintrafen, von den meist jugendlichen Störern mit Steinen beworfen worden. Daraufhin wurden Ersatzkräfte angefordert. Vergebens wurden die Demonstranten dreimal aufgefordert, den Platz zu räumen. Danach haben die Polizeibeamten Tränengas geworfen und gingen mit Schlagstöcken gegen die Menge vor. Dpa hat berichtet, daß durch die Steinwürfe drei Fahrzeuge beschädigt worden sind.

Gestern erzählte dagegen einer der jugendlichen Besetzer des Hauses: "Die Knüppel waren zuerst da - die Steine flogen viel später!" Nach Angaben eines Sprechers der Jugendlichen sollen zwei Demonstranten Platzwunden am Kopf davongetragen haben. Einer der verletzten will gehört haben, daß ein Polizeibeamter in Erregung geschrien hat: "Haut doch das Schwein nieder."

Bei der Diskussion gestern abend trugen Sprecher der Demonstranten ihre Forderungen dem Jugend-Stadtrat Erwin Beck und seinem Begleiter, Finanzrat Günter Funk (CDU) vor. Danach soll das Martha-Maria-Haus der Arbeit von vier Gruppen zur Verfügung gestellt werden, die sich unter anderem mit der Betreuung und Beratung von Trebegängern (Jugendliche, die aus Heimen oder von zu Hause ausgerissen sind) und Drogenabhängigen befassen wollen. "Wir brauchen das Haus so schnell wie möglich" argumentierten die Besetzer. Nicht nur bei der Arbeit mit Drogenabhängigen hätten bisher die zuständigen Gruppen versagt, sondern auch bei der Heimarbeit. "Deshalb ist es in Berlin dringend erforderlich, daß eine Alternative zu den Heimen geschaffen wird."

Die Jugendlichen fordern weiter Selbstverwaltung für das Haus, finanzielle Unterstützung vom Staat und Planstellen im Etat für zwei Ärzte, zwei Psychologen und zehn Sozialarbeiter, die in dem Haus ihre Arbeit aufnehmen sollen.

Der Kompromissvorschlag Stadtrats Beck, zuerst einmal ein einem Modellfall eine Wohngemeinschaft in einer Etage einzurichten, wurde abgelehnt. Ein Sprecher der Demonstranten betonte, daß dieser Vorschlag von der Arbeit von nur einer Gruppe ausgehe, inzwischen seien es aber vier Gruppen geworden, die auf diesen Gebieten arbeiten. Eine Wohngemeinschaft sei daher zuwenig.

Eindringlich warnte Erwin Beck, der vorsichtig durchblicken ließ, daß zumindest bis heute mittag die Polizei das Haus nicht mit Gewalt räumen werde, daß "Irrationale" bei der Besetzung des Hauses den "Bogen überspannen".
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Der Tagesspiegel am Freitag, dem 10.12.1971
Seite 12
Autorenkürzel: fa

Entgegenkommen beim Bezirksamt

Teil des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses von Jugendlichen besetzt

Bild zum Zeitungsartikel vom 10.12.1971 im TagesspiegelDie jugendlichen Besetzer des ehemaligen Schwesternheims "Martha-Maria" im Gebäudekomplex des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses in Kreuzberg am Mariannenplatz behaupteten gestern im Einvernehmen mit dem Bezirksamt Kreuzberg ihren Besitz. Sie wollen dort vor allem solchen Jugendlichen Unterkunft und Hilfe gewähren, die sonst in ein Heim kommen müßten. Das Bezirksamt hatte sich nach langen Beratungen entschlossen, die Gebäudenutzung durch die Jugendgruppen vorerst hinzunehmen. Bei den Verhandlungen von Jugendstadtrat Beck und Finanzstadtrat Funk mit den Jugendlichen gestern abend in dem besetzten Haus gab das Bezirksamt zu erkennen, daß es auch langfristig zumindest Teile des Gebäudes den eingedrungenen Jugendgruppen zur Verfügung stellen würde. Die Voraussetzung dafür wäre, wie Beck mitteilte, daß sich auf der Seite der Bewohner verantwortliche Träger zeigten, mit denen Vereinbarungen getroffen werden könnten. Das Gebäude war, wie in einem teil der gestrigen Ausgabe berichtet, am Mittwochabend von mehreren hundert Jugendlichen besetzt worden.

Meistgebrauchter Begriff auf der Besprechung in einem von gut 100 Personen gefüllten größeren Raum war "Trebegänger". Solche Personen stellen offensichtlich den Hauptanteil der Anwesenden: Jugendliche, die wohnungs- und vielleicht auch anhanglos frei leben und eine ihren Bedürfnissen angemessene Bleibe suchen. Mehrere junge Sozialarbeiter meldeten sich zu Wort, die sich insofern mit den Jugendlichen solidarisieren, als sie das offizielle Heimwesen ablehnen, sowohl für Unterbringungsfälle bei Drogenmißbrauch als auch bei Fällen allgemeiner sozialer Gefährdung.

"In den Heimen", erklärte eine junge Sprecherin unter Beifall, "werden die Jugendlichen unterdrückt, so daß sie ausrücken und ohne Papiere sich durchzuschlagen versuchen. Die Mädchen gehen auf den Strich und die Jungens einbrechen."

Die Alternative soll nun im Haus "Martha-Maria", das gegenwärtig von einem Transparent mit der Aufschrift "Georg-Rauch-Haus" geziert wird, entstehen. Das Bezirksamt Kreuzberg, durch das Engagement von Jugendstadtrat Beck beeinflußt, will Starthilfe leisten. Die Sprecherin der "Basisgruppe Heim- und Lehrlingsarbeit" forderte im Namen aller Anwesenden die Einrichtung einer Kontaktstelle für "Trebegänger", die Bildung von Wohnkollektiven anstelle von Heimunterbringung, die Unterbringung von Trebegängern, eine medizinische Hilfe und Betreuung der Bewohner. Von der Behörde sollten Sozialarbeiter bezahlt werden, die von den Hausbewohnern vorgeschlagen werden.

Stadtrat Beck schlug als nächsten Treffpunkt das Rathaus in der Yorkstraße vor, wohin heute um 13 Uhr 30 eine von den Besetzern beauftragte Delegation mit möglichst konkreten Konzepten kommen solle. Die Verwaltung wolle dann Stellung nehmen. Im übrigen bleibe der Status quo erhalten. Lauthals lachten die Jugendlichen über die Vorstellungen der Bezirksverwaltung, daß nur eine Etage des über 90 Zimmer großen Hauses zur Verfügung gestellt werden solle. "Wir brauchen das ganze Haus, darunter gibt es keine Lösung", lautete die Antwort. Nach der Behördenplanung sollte das frühere Schwesternheim ein Kinderheim mit 75 Plätzen werden.

Die Jugendlichen kritisierten immer wieder, daß die Behörde den seit eineinhalb Jahren leerstehenden Bethanien-Komplex bislang nicht nutzen konnte.

Das Bezirksamt besitzt zwar, wie berichtet, einen ausführlichen, mit dem Senat abgestimmten vielgliedrigen Belegungsplan. Aber noch fehlen endgültige Beschlüsse und auch die Finanzmittel für zahlreiche von den künftigen Nutzern geforderten Umbauten. Es sollen der Staats- und Domchor, ein Heimatmuseum, Schuleinrichtungen, ein Seniorenzentrum, Künstlerwerkstätten und -unterkünfte, Ausstellungsräume, die Volkshochschule, Kindertagesstätten, Kinderheime, Büchereien und Seminarräume in Bethanien entstehen.
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B.Z. am 11.12.1971
Nr. 288, Seite 7
Autorin: Evelyn Köhler

"Bethanien" weiter besetzt

Auch übers Wochenende wird ein Gebäude des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses von Demonstranten "besetzt" bleiben. Bei einer Diskussion, die gestern zwischen zehn Vertretern der Gruppe und dem Bezirksamt geführt wurde, hat man den Jugendlichen zugesichert, daß sie weiterhin in dem ehemaligen Schwesternheim bleiben dürfen. Am Montag sollten die Verhandlungen um die Forderungen der Demonstranten mit Stadtrat Erwin Beck weitergehen. Auch Bezirksbürgermeister Günter Abendroth will mit der Gruppe im Gespräch bleiben. Wie weit er ihren Forderungen nach dem Haus, das inzwischen von den Demonstranten in "Georg-von-Rauch-Haus" umbenannt wurde, entsprechen wird, ist noch nicht bekannt. Der Vorsitzende des Jugendwohlfahrt-Ausschusses erklärte nach der Besprechung, daß "die Vorstellung der Gruppe den gegebenen sozialpädagogischen Erfordernissen entspreche".
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Der Tagesspiegel am Samstag, dem 11.12.1971
Seite 12
Autorenkürzel: fa

Vor Besetzung ein Angebot vom Bezirk

Stadtrat Beck: Schwesternhaus war ohnehin für Jugendgruppen bestimmt

Die gewaltsame Besetzung des ehemaligen Schwesternhauses "Martha-Maria" im ehemaligen Bethanienkrankenhaus am Mittwochabend sei, wie der Kreuzberger Stadtrat für Jugend und Sport, Erwin Beck gestern erklärte, ebenso unnötig wie unerklärlich. Das Haus sei den Jugendgruppen, aus denen die Wortführer der Besetzer stammen, bereits im November für Jugendarbeit angeboten worden. Das letzte Angebot sei am 28. November in Anwesenheit von Senatsrat Tuchel von der Senatsverwaltung für Familie, Jugend und Sport unterbreitet worden. Die Jugendgruppen hätten jedoch nicht darauf reagiert. Daß nach der Besetzung des Hauses die Bezirksverwaltung die Anwesenheit der Jugendlichen dulde, beruhe auf der bereits vorhanden gewesenen Absicht der Behörde, an dieser Stelle freie Jugendgruppen anzusiedeln.

Gestern fanden erneut Verhandlungen zwischen Delegierten der Jugendgruppen und Stadtrat Beck statt, um die Voraussetzungen für ernsthafte Tätigkeiten in dem Haus zu schaffen. Die Sprecher der Jugendgruppen stammen überwiegend, wie Beck erklärte, aus dem am Mariannenplatz ansässigen Verein "Jugendzentrum e.V." und der Basisgruppe "Heim und Lehrlingsarbeit", die in der Wiener Straße 10 bereits ein Domizil hat.

Die Entscheidungen des Bezirksamts über die Nutzung des Martha-Maria-Hauses und der Förderung der angekündigten Jugendgruppenarbeit wird weitgehend von dem ausführlichen Konzept abhängen, das die Sprecher am Montag der Behörde überreichen wollen, und auch davon, ob es den Jugendlichen gelingt, intern das erforderliche Maß an Ordnung sicherzustellen. Auf keinen Fall werde die Behörde die Bildung einer "Anarchistenhöhle" zulassen. Auf Räume des 96-Zimmer-Hauses reflektierten schließlich noch andere Interessenten, darunter ernstzunehmende freie Träger von Kindergruppen und eine größere Studentengruppe, die ebenfalls praktische Jugendarbeit leisten wolle.
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B.Z. am 14.12.1971
Nr. 290, Seite 7
Autor: nicht bennant

Wer zieht in Bethanien ein?

Heute wird die Entscheidung fallen, wer in das Martha-Maria-Haus des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses einzieht. Wie berichtet, hatten in der letzten Woche Demonstranten den Gebäudetrakt besetzt. Sie forderten, daß alle 96 Zimmer als Wohnkollektive für Lehrlinge, Trebegänger und ehemalige Suchtabhängige eingerichtet werden solle. Jugendstadtrat Erwin Beck dagegen wollte nur eine Etage des Hauses für diese Zwecke zur Verfügung stellen. Außer den Demonstranten bewerben sich die Eltern-Kind-Schüler-Gruppe "Modell Florian" und das "Release-Zentrum zur Bekämpfung der Rauschmittelsucht" um dieses Haus.
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Berliner Morgenpost am 15.12. 1971
Seite 4
Ressort: Nachbarschaft
Autor: J. Grabowsky

Die drei Interessengruppen waren zu keinen Kompromissen bereit

Diskussion um Martha-Maria-Haus wurde ergebnislos abgebrochen

Die Szene glich einem Tribunal. Der Mann, der gern allen helfen möchte, mußte sich von seinen Gesprächspartnern herbe Kritik gefallen lassen. Kreuzbergs Jugendstadtrat Erwin Beck (SPD) empfing gestern früh Abordnungen von insgesamt drei Arbeitsgruppen, die an einer Unterbringung im am Mittwochabend von Jugendlichen besetzten Martha-Maria-Haus interessiert sind. Indes, eine Entscheidung, wer welchen Platz in dem Gebäude bekommen soll, fiel gestern nicht. Das Bezirksamt will heute noch einmal über die "Platzverteilung" beraten.

Noch längst nicht abgeschlossen sind die Auseinandersetzungen um das Martha-Maria-Haus auf dem Gelände des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses am Kreuzberger Mariannenplatz. Dieses Gebäude wurde bei der Zukunftsplanung für die historischen Gebäude der Abteilung Jugend und Sport im Bezirksamt Kreuzberg zugesprochen. Drei Arbeitsgruppen möchten es für ihre Tätigkeit haben.

· Die Eltern-, Kinder-, Schülergruppe "Modell Florian". In dieser Institution arbeiten freiwillige Helfer und Eltern mit Schülern und Kindern nach einem selbstentwickelten pädagogischen Konzept.

· Das "Jugendzentrum e.V.". Diese Gruppe besteht aus Lehrlingen, Jungarbeitern, Schülern und Studenten, die sich "mit der Situation der Jugendlichen am Arbeitsplatz, in der Lehre, in der Berufsschule, in der Schule und im Elternhaus beschäftigen". Mitglieder dieser Gruppe hatten in der Nacht zum Donnerstag das Haus auf dem Bethaniengelände besetzt.

· "Release Berlin e.V., Zentrum zur Bekämpfung der Rauschmittelsucht". Diese Instutition - sie wird von zwei Pfarrern geleitet - befaßt sich mit der Resozialisierung von rauschgiftsüchtigen Jugendlichen. Zur Zeit ist dieser Verein in der Dennewitzstraße 33 (Tiergarten) aktiv.

Einzige Möglichkeit

Das "Jugendzentrum" beansprucht das ganze Haus für seine Arbeit. Der Jugendstadtrat - er möchte allen helfen - hat aber nicht für alle den Raum zur Verfügung, der von den einzelnen Gruppen beansprucht wird. Seine einzige Möglichkeit: die zur Verfügung stehenden Räume an alle drei Gruppen zu verteilen. "Das ist meine einzige Möglichkeit. Mehr habe ich nicht. Ich will allen Interessenten helfen. Da müssen wir eine Kompromißlösung finden." Das sagte Erwin Beck in einem Gespräch mit der Berliner Morgenpost.

Die Interessenten wollen aber keinen Kompromiß. Bei den Treffen der Abordnungen mit dem Stadtrat wurde deutlich, daß alle Interessenten an dem Martha-Maria-Haus den Vorrang vor jeder anderen Gruppe haben möchten.

Erwin Beck hat großes Verständnis für das Anliegen aller. Seine Begründungen für eine Kompromißlösung wurden von den Besuchern nicht akzeptiert. Der Stadtrat hatte zeitweilig Schwierigkeiten, seine Meinung zu dem Problem darzulegen. Man wollte ihn nicht immer ausreden lassen.

Heute will das Bezirksamt eine Entscheidung über die Aufteilung der Räume im Martha-Maria-Haus treffen. Abends will der Jugendstadtrat den Interessenten Rede und Antwort stehen.
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B.Z. am 15.12.1971
Seite 7
Autorin: Evelyn Köhler

Besetzer stellen Forderungen

In einer Stundenlangen Sondersitzung beschäftigten sich gestern das Bezirksamt Kreuzberg und Senatsstellen mit der "Besetzung" des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses. Wie die BZ berichtete, hatten am Mittwochabend nach einem Teach-in in der TU rund 150 Jugendliche das Martha-Maria-Haus in Beschlag genommen. Sie forderten, daß alle 96 Zimmer des Traktes für Wohngemeinschaften, in denen Schüler, Lehrlinge und Trebegänger unterkommen sollen, vom Bezirksamt zur Verfügung gestellt werden sollen. Wie die BZ in einem Teil der gestrigen Auflage berichtete, war das seit anderthalb Jahren leerstehende Krankenhaus ohnehin für Jugendarbeitsgruppen vorgesehen.

Gestern abend unterbreitete Stadtrat Erwin Beck den rund 150 Demonstranten einen Kompromißvorschlag: Als Modellversuch sollen acht bis zehn Jugendliche in einer Etage des ehemaligen Schwesternheimes untergebracht werden. Die Jugendlichen beantworteten diese Alternative mit scharfem Protest. Sie wollen an ihrer Forderung festhalten.

...aber der Senat soll bezahlen

· Die Selbstverwaltung des Martha-Maria-Hauses, das gestern in "Georg von Rauch-Haus" umbenannt worden ist.
· Zehn vom Senat bezahlte Sozialarbeiter, die sich die Gruppe aussuchen will.
· Eine ärztliche Praxis, die kostenlos entlaufene Heimzöglinge, Suchtabhängige, Lehrlinge und Schüler behandelt.
· Zusammenhängende Gruppenarbeit, die vor allem Therapiemaßnahmen für Jugendliche aus Heimen vorsieht.
· Kostenübernahme dieses Modells durch den Senat

Stadtrat Beck versuchte die Demonstranten zu beschwichtigen: "Ich weiß, daß auf dem Gebiet der Jugenderziehung zu wenig getan wurde. Aber wenn man den Bogen überspannt, werden die Rechten siegen." Er versicherte den Jugendlichen, daß sie mindestens bis heute Mittag in dem ehemaligen Schwesternheim bleiben dürfen. Gegen 13 Uhr will er sich mit den Delegierten der Gruppe zu einer Diskussion im Rathaus Kreuzberg treffen.
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B.Z. am 16.12.1971
Nr. 292, Seite 6
Autorin: Evelyn Köhler

Bethanien: Noch keine Entscheidung

Noch immer sind die Würfel nicht gefallen, wer in den "besetzten" Gebäudetrakt des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses einziehen wird. Jugendstadtrat Erwin Beck konnte nach der gestrigen Sondersitzung im Rathaus Kreuzberg nur versichern, "daß ein Mischobjekt sozialer Arbeit in dem Martha-Maria-Haus entstehen soll." Wie berichtet halten sich dort seit einer Woche jugendliche Demonstranten auf. Sie wollen erreichen, daß alle 96 Zimmer des Gebäudes für Gruppenarbeit und Wohnkollektive dem Jugendzentrum e.V. übergeben werden. Jetzt soll am Donnerstag die Entscheidung fallen, wieweit das Bezirksamt diesen Forderungen entgegenkommen kann.
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Der Tagesspiegel am Freitag, dem 17.12.1971
Seite 9
Autor: nicht benannt

Verständnis für die Besetzer

Der Landesjugendausschuß im DGB-Berlin hat sein "volles Verständnis" für die Besetzer des Martha-Maria-Hauses im früheren Bethanien-Krankenhaus erklärt. Vom Bezirksamt Kreuzberg wird gefordert, dem Jugendzentrum Kreuzberg alle Räume des Martha-Maria-Hauses zur Verfügung zu stellen. Außerdem solle die erforderliche materielle Hilfe unbürokratisch gegeben werden. Von den Jugendlichen im Martha-Maria-Haus wurde mitgeteilt, sie hätten am Mittwoch in fünf Stunden 400 Unterschriften solidarischer Mitbürger gesammelt. Ihnen seien ferner ein Fernseher, eine Couchgarnitur, ein Dutzend Handtücher, eine Kiste Kartoffeln, 100 Eier und zehn Scheuerlappen gespendet worden.
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B.Z. am 18.12.1971
Nr. 294, Seite 16
Leserbrief von Karl B., Berlin 37

Haus-Besetzung

Statt das Martha-Maria-Haus von der Polizei räumen zu lassen, beschäftigte sich das Bezirksamt Kreuzberg in stundenlangen "Sondersitzungen" damit, wie man den jugendlichen Demonstranten entgegenkommen könnte. Nicht genug damit, gab sich ein Stadtrat her, mit unvorstellbarer Servilität den 150 Demonstranten, die das Gebäude besetzt halten, "Kompromißvorschläge" zu unterbreiten. Daß man den jungen Herren nicht noch Kaffee und Kuchen servieren ließ, ist verwunderlich. Falsch angewandte Humanität, deren Folgen für die Zukunft vorauszusehen sind.
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B.Z. am 24.12.1971
Nr. 305, Seite 5
Autorenkürzel: pit

Grünes Licht für ‚Besatzer‘

Bethanien: Mietvertrag wird geschlossen

Die Würfel sind gefallen - das Martha-Maria-Haus auf dem Gelände von Bethanien bleibt in den Händen seiner "Besatzer". Und das mit Billigung der Kreuzberger SPD und der sozialdemokratischen Bezirksverordnetenfraktion.

Einer Unterzeichnung des Mietvertrages zwischen dem Bezirksamt einerseits und dem Jugendzentrum e.V. beziehungsweise der Eltern-Kind-Gruppe Florian andererseitssteht nichts mehr im Weg.

Verhandlungen zwischen der Behörde und den plötzlich aufgetauchten "Mietern" waren vorangegangen. Das Ergebnis akzeptierten beide Seiten. Dem Jugendzentrum e.V. - ihm gehören etwa 20 bis 30 Leute an - werden zwei Etagen des Martha-Maria-hauses überlassen. Die Gruppe Florian, die im Feierabendhaus des Komplexes bereits zwei Etagen benutzt, erhält zusätzlich vier Räume.

Um einen ständigen Kontakt zwischen den "Ratsherren" und den neuen Bewohnern herzustellen, werden drei hauptamtliche Jugendpfleger als Sozialarbeiter in Bethanien beschäftigt.

Unabhängig von diesem Mietvertrag, faßte der SPD-Kreisvorstand in Kreuzberg einstimmig zwei weitere Beschlüsse: Der Abteilung Jugend und Sport sollen auf dem Bethanien-Gelände Räume für die Jugend zur Verfügung gestellt werden. Das Bezirksamt und der Senat wurden aufgefordert, sobald wie möglich eine Nutzung des verwaisten Krankenhauses zu ermöglichen.

Am guten Willen fehlt es nicht. In einer Dokumentation der Senatorin für Jugend und Sport wird dem Experiment Bethanien "grünes Licht" gegeben. Ob das mit dem Geld auch so schnell geht, bleibt abzuwarten. Denn die allernotwendigsten Renovierungsarbeiten verschlingen runde sieben Millionen Mark.
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B.Z. am 29.12.1971
Nr. 309, Seite 6
Autorin: Evelyn Köhler

Nach der Besetzung:

Im Bethanien geht´s jetzt an die Arbeit

Drei Wochen nach der spektakulären Besetzung des ehemaligen Martha-Maria-Hauses im Bethanien-Komplex haben sich die Wogen der Erregung auf beiden Seiten geglättet. Das Jugendzentrum e.V. und das Bezirksamt Kreuzberg konnten sich gestern auf einen vorläufigen Nutzungsvertrag einigen. Die Hausbesetzer geben sich mit zwei Etagen statt der geforderten vier zufrieden.

Bis ein endgültiger Vertrag zustande kommt, will die Behörde die nötigen 500 Mark für die Versicherung des Gebäudes übernehmen. Außerdem soll bis Anfang des Jahres geklärt werden, wer die Kosten für sozialpädagogische Kräfte sowie für den Lebensunterhalt einzelner Jugendlicher in dem Haus trägt. Das Bezirksamt stimmte den Forderungen der Besetzer zu, daß in beiden Etagen entlaufene Heimzöglinge aufgenommen und legalisiert werden sollen. Aber das Projekt für sogenannte Trebegänger ist dermaßen kostspielig, das der Senator für Familie, Jugend und Sport mit einer kräftigen "Finanz-Spritze" aushelfen muß.

In der letzten Woche hat sich in dem ehemaligen Schwesternheim einiges verändert. Nicht nur der Name "Georg-von-Rauch-Haus" ist verschwunden. Auch die anarchistische Randgruppe "Schwarze Hilfe" zog samt radikaler Demagogen aus. Jetzt wohnen nach Angaben von Jugendstadtrat Erwin Beck rund 70 Trebegänger, Schüler, Studenten und Sozialarbeiter in den Etagen. Um die jungen Leute bei ihrem Vorhaben zu unterstützen, haben zahlreiche Berliner Familien Möbel, Wäsche und auch Geld gespendet.

Anfang Januar wird es in dem 96-Zimmer-Trakt noch ein bißchen voller werden. Die Eltern-Kind-Schüler-Gruppe "Florian" will in vier Räumen der ersten Etage ihre Arbeit aufnehmen. Der dritte Verein, der sich damals um das Martha-Maria-haus bemüht hatte, ist inzwischen ausgeschieden: Die Release-Gruppe, die sich um Suchtabhängige kümmert, hat vom Bezirksamt eine leerstehende Druckerei in der Oranienstraße für ihre Zwecke zugewiesen bekommen.
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